M. Sieber: Mobilität und Verkehr in der Schweiz seit 1918

Cover
Title
Schneller, weiter, billiger, mehr?. Mobilität und Verkehr in der Schweiz seit 1918


Author(s)
Sieber, Markus
Series
Verkehrsgeschichte Schweiz (3)
Published
Zürich 2022: Chronos Verlag
Extent
360 S., 20 SW-Abb., 43 Grafiken, 28 Tabellen
Price
€ 48,00
by
Jean-Daniel Blanc

Der Untertitel «Mobilität und Verkehr in der Schweiz» weckt den Eindruck, es handle sich bei der vorliegenden Berner Dissertation um eine Überblicksdarstellung der schweizerischen Verkehrsgeschichte. Falsch ist dies nicht, denn der erste Teil des Buches bietet mit über 150 Seiten einen gelungenen Überblick über die wesentlichen Entwicklungen des Verkehrs und des Verkehrssystem in der Schweiz seit 1918.

Der Autor erklärt die Entstehung und Durchsetzung des Automobilismus aus den Wechselwirkungen zwischen forciertem Strassenbau, verschiedenen Wirtschaftsbedürfnissen und individuellen Wunschvorstellungen. Er erläutert, weshalb das Wachstum des motorisierten Verkehrs auch nach der umweltpolitischen Wende in den 1970er Jahren ungebremst weiterging. Daneben finden auch der öffentliche Verkehr und insbesondere der oft vernachlässigte Veloverkehr die nötige Beachtung. Letzterer hatte beispielsweise in der Zwischenkriegszeit eine grosse Bedeutung.

Was in der Übersicht hingegen fast völlig fehlt, ist der Güterverkehr. Dies ist zwar verständlich, weil das Thema schon weit genug gefasst ist. Weil aber Güter- und Personenverkehr die gleichen Infrastrukturen benutzen, ist diese Lücke dennoch bedauerlich. Ausserdem ist der Gütertransport gerade in der Schweiz von besonderer politischer Bedeutung.

Was bedeutet «Mobilität» und wie wird sie vom «Verkehr» abgegrenzt. Der Autor geht im Vorwort ausführlich auf den Begriff Mobilität ein und problematisiert dessen «inflationär gewordene Verwendung». Er untermauert diese Kritik mit einer quantitativen Analyse der Anzahl Artikel in der NZZ, in denen der Begriff Mobilität vorkommt. Schon dieses Vorgehen zeigt: Dem Autor ist eine saubere empirische Hinterlegung seiner Aussagen wichtig.

Sieber schliesst in seinen Vorbemerkungen die «soziale Mobilität» von seiner Verwendung des Begriffs aus und fokussiert sich auf die räumliche Mobilität. Verkehr definiert er als «die messbaren Auswirkungen realisierter Mobilität». Für seine Untersuchung beschränkt er sich explizit auf die «zirkuläre Mobilität», worunter er Bewegungen versteht, die zum Ausgangspunkt zurückkehren. Wenn das etwas arg abstrakt tönt, so hilft vielleicht die Aussage, dass es primär um die «Alltagsmobilität» geht.

Im zweiten Teil des Buches werden zunächst die vielen Adjektive des Buchtitels «schneller, weiter, billiger, mehr» besprochen und teilweise relativiert. So bei den Kosten: Einerseits haben sich die Kosten der Verkehrsmittel insgesamt zwar stark verringert, gleichzeitig haben sich aber «die Verkehrsausgaben der Haushalte und die des Staates im gleichen Zeitraum stark erhöht.» Auch bei der Geschwindigkeit stellt sich die Frage, ob das tatsächliche Tempo ebenso gewachsen ist wie die technische Leistungsfähigkeit der einzelnen Verkehrsmittel.

Der Schwerpunkt im zweiten Teil liegt auf einer Analyse der Bedeutung der beiden wichtigsten Verkehrszwecke Arbeit und Freizeit für die Alltagsmobilität. Interessant sind die Ausführungen zum Freizeitverkehr, über den man weniger weiss, obwohl er unterdessen bedeutender ist als der Arbeitsverkehr. Der Autor geht den Zusammenhängen zwischen Arbeitszeiten, gesellschaftlichen Entwicklungen und Verkehrsbedürfnissen nach, beispielsweise der «Etablierung des Wochenendes als sozialer Institution». Ausserdem hinterfragt er die These von der «vermeintlichen Zunahme der Freizeit». Man bekommt einen Eindruck davon, wie fast jede gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte mit einer Zunahme der Mobilitätsbedürfnisse verknüpft war, die zumeist motorisiert erfüllt wird. Der Autor macht kein Geheimnis daraus, dass er diese Entwicklung kritisch sieht. Die stark quantitativ geprägte Darstellung ist mehr verkehrswissenschaftlich als historisch ausgerichtet, auch wenn langfristige Datenreihen verwendet werden. Sie überzeugt mit sorgfältigen Differenzierungen, die zeigen, wie komplex die Materie ist.

Bei den ersten zwei Teilen handelt es sich, wie der Autor bemerkt, um «klassische Strukturgeschichten». Diese werden mit einem dritten Teil ergänzt, der auf einem Oral-History-Projekt beruht. Je vier Vertreter von drei Alterskohorten («mobile Rentner», «Babyboomer», «Generation Y») wurden über ihre Mobilitätsbiografien befragt. Die Ergebnisse werden in einer konsolidierten Form wiedergegeben. Die Beschreibungen sind anschaulich und lebensnah. Sie zeigen, «wie stark sich die Mobilität von Kindern und Jugendlichen seit der Zwischenkriegszeit verändert hat». Natürlich ist diese Erhebung aufgrund der kleinen Zahl von Befragten nicht repräsentativ, doch wirken die Beschreibungen durchaus «typisch» für ihre Generation.

Der Autor sieht in den Erzählungen seine These bestätigt, wonach biographische Schlüsselereignisse eine hohe Bedeutung für das Mobilitätsverhalten haben, indem es rasch zu «Habitualisierung» von Mobilitätsmustern kommt. Wer beispielsweise einmal das Auto braucht, um zu einem entlegenen Arbeitsort zu gelangen, wird dieses Verhalten mit hoher Wahrscheinlichkeit beibehalten, auch wenn der nächste Arbeitsplatz gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar ist.

Alles in allem bietet das Buch sowohl einen lesenswerten Überblick über die Mobilitätsgeschichte als auch Vertiefungen in verschiedene Teilgebiete mit unterschiedlicher Methodik und Darstellungsweise. Der Überblicksteil ist mit historischen Fotos illustriert, die übrigen Teile mit Grafiken. Erwähnenswert sind zudem die Karikaturen aus dem «Nebelspalter», welche der Autor ebenfalls als Quelle nutzt.

Zitierweise:
Blanc, Jean-Daniel: Rezension zu: Sieber, Markus: Schneller, weiter, billiger, mehr? Mobilität und Verkehr in der Schweiz seit 1918, Zürich 2021. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 72(3), 2022, S. 474-476. Online: <https://doi.org/10.24894/2296-6013.00114>.

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